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Arno Gruen
arno gruen
die verweigerung der realitaet im namen der realitaet
verantwortlich werden fuer das eigene selbst ist ein paradoxer
prozess. wer in einfachen begriffen des zeitlichen miteinanders denkt,
wird die wirkmechanismen nie erfassen. entwicklung ist nie denkbar
ohne einfluesse von aussen. wir alle haben eltern, haben vater oder
mutter, die in uns weiter wirken. doch die widersprueche, die im
inneren der menschlichen seele entstehen, entfalten ihre eigene
dynamik. so kommt es zu handlungen, die scheinbar durch bestimmte
aeussere ereignisse determiniert sind, in wahrheit aber wenig oder gar
nichts mit ihnen zu tun haben.
denn nicht nur die umwelt beeinflusst das kleine selbst, das wachsen
moechte. die reaktionen des kindes auf diese praegenden einfluesse
wirken ihrerseits auf die umwelt zurueck. es handelt sich also um eine
staendige wechselwirkung. vater und mutter koennen dem kind ihren
willen aufzwingen, doch art und intensitaet ihres erzieherischen
einflusses werden mitbestimmt durch die reaktionen des kindes.
die kompliziertheit dieses wechselspiels zwischen kind und eltern
liegt darin, dass die moeglichkeit zur autonomie einerseits in den
fruehesten interaktionen zwischen dem werdenden selbst und seiner
umwelt grundgelegt wird, andererseits aber entscheidend dafuer ist,
wie weit das kind verantwortung fuer sich selbst uebernimmt. davon
haengen alle seine kuenftigen beziehungen innerhalb des sozialen
feldes ab. grundsaetzlich kann verantwortlichkeit sich in zweierlei
richtungen entwickeln: entweder formt sich das werdende selbst frei
und offen in eigener verantwortung, oder es ueberlaesst sich fuegsam
dem praegenden einfluss anderer. damit weicht es den verpflichtungen
echter verantwortung aus.
die flucht vor der verantwortung wird dabei aus dem bewusstsein
verdraengt. dies muss so sein, weil die preisgabe der autonomie durch
unterwerfung unter einen fremden willen ein elementares machtspiel in
gang setzt: "ich werde so, wie du mich haben willst, damit du fuer
mich sorgst. meine unterwerfung ist von nun an meine macht ueber dich,
mit der ich deine fuersorge erzwinge." so wird das
sich-abhaengig-machen zur rache fuer die unterwerfung. dieser akt
beinhaltet mehreres. erstens uebernimmt das kind die bewertung der
eltern. was man internalisierung nennt, ist also ein prozess der
kollaboration durch unterwerfung. zweitens bedeutet dies, dass das
kind alles an sich selber zu hassen beginnt, was es in konflikt mit
den erwartungen seiner eltern bringen koennte. und drittens erwaechst
aus diesem selbsthass die bereitschaft zu immer weiterer unterwerfung.
damit ist ein teufelskreis in gang gesetzt: unterwerfung und
selbstverachtung bedingen sich wechselseitig. es ist immer beides
vorhanden: selbsthass und selbstverachtung. doch eben die
selbstverachtung darf nicht gefuehlt werden, weil sie unertraeglich
waere. darum muss der ganze prozess unbewusst bleiben; er wird
verdraengt und verleugnet, und so stuerzt man sich blindlings immer
tiefer in die verstrickungen des machtspiels.
der ewige vorwurf dessen, der sich einem anderen ausgeliefert hat,
lautet dementsprechend: "du hast nicht genug fuer mich getan." dies
ist der ausdruck der phantasierten gegenmacht, die jedem pakt, der auf
herrschaft und unterwerfung aufbaut, innewohnt. dieses machtspiel
wirkt freilich im verborgenen und beginnt beim saeugling im strom
praeverbaler gefuehle. dieses machtspiel muss demnach gerade
geheimgehalten werden, um die absicht der gegenmacht zu verbergen. die
halluzination einer gegenmacht verhuellt dem, der sich unterwirft,
dass er sich willentlich unterwirft. das fuehrt zu einem doppelten
fehlschlag: die unterwerfung bleibt bestehen, und die rache wird zur
selbstschaedigung. unablaessig geschuert vom selbsthass, wird das
rachebeduerfnis zur uneingestandenen und unerkannten quelle und
steuerung der eigenen seelischen verfassung.
so sieht die menschliche situation aus, wenn die mitwirkung an der
eigenen unterwerfung die entwicklung charakterisiert. und wer nicht
mehr weiss, dass er sich unterworfen hat, kann das abgespaltene selbst
auch im spaeteren leben nicht integrieren. der daraus resultierende
selbsthass wird alle kuenftigen handlungen naehren - als versuch, das
seelische ungleichgewicht zu kompensieren. eigentlich ist ein leben in
selbsthass unmoeglich. nur wenn man sich dem eigenen selbst, das sich
so bereitwillig unterwerfen konnte, stellt, dann gelangt man - wenn
auch unter schmerzen - zu einer verminderung des selbsthasses. doch
sich ihm stellen, das wuerde bedeuten, die unterwerfung anzuerkennen,
die einen hassen macht.
ein kind aber kann nicht erkennen und damit nicht zugeben, dass es den
schmerz nicht ertragen konnte, in seinem selbst nicht wirklich
angenommen zu werden, nicht anerkannt zu werden. sich selbst
angenommen zu fuehlen durch die liebe eines anderen ist eine
grundbedingung des menschlichen wachsens. friedrich hebbel hat es in
einem gedicht ausgedrueckt:
so dir im auge wundersam
der schmerz darueber, nicht angenommen zu werden, ist sehr
wahrscheinlich bei manchen kindern die ursache des sogenannten
ploetzlichen kindstods. meistens unterwirft sich das kind, um
teilzuhaben an der macht, die es unterdrueckt. autistische kinder
gehen offensichtlich anders mit diesem schmerz um, sie scheinen nicht
bereit zu sein, ihn zu leugnen.
es ist sehr paradox: man kann nicht mit dem selbsthass leben, ohne
etwas gegen ihn zu tun. wuerde man ihm ins gesicht sehen, saehe man
sich dem schmerz ueber den verrat, den man an sich selbst begangen
hat, konfrontiert. also wird geleugnet. der widerspruch zwischen dem
beduerfnis, vor sich selbst das gesicht zu wahren, und der
bereitschaft, sich durch unterwerfung mit der macht zu verbuenden, ist
deshalb die grundlegende und vielleicht erste spaltung in der
menschlichen seele. sie ist nicht eine blosse verdraengung, sondern
eine radikale abspaltung, die abspaltung vom wissen um das
preisgegebene selbst und den daraus resultierenden selbsthass. dies
wird zum grundprinzip eines ganzen lebens. diese spaltung ist
eingebettet und wird aufrechterhalten von einer gesellschaftlichen
ideologie, die gehorsam mit verantwortung gleichsetzt: gehorsam sein
heisst gut sein, und gut sein heisst verantwortungsvoll sein. frei
sein dagegen ist ungehorsam, und wer ungehorsam ist, fordert
missfallen heraus und droht den schutz der maechtigen beziehungsweise
die chance der teilhabe an ihrer macht zu verlieren.
an dieser stelle ist es noetig, etwas zur soziologischen sicht des
menschlichen seins zu sagen. kriminalitaet wird zum beispiel als eine
folge der armut gesehen. doch dies erklaert nicht, warum die mehrheit
nicht kriminell wird. daraus wiederum kann man aber nicht
schlussfolgern, armut haette keinen zusammenhang mit kriminalitaet.
man kommt nicht umhin, einiges zu differenzieren. wenn ein hungriger
stiehlt, handelt er nicht aus habgier; und wenn er dabei, ohne es zu
wollen, jemanden umbringt, ist es kein vorsaetzlicher mord.
andererseits gehoeren die reichen und maechtigen zu jenen in unserer
gesellschaft, die kriege anzetteln, die lebensgrundlage anderer
menschen zerstoeren, natur und menschen vergiften. sie aber sitzen
nicht in den gefaengnissen. kriminalstatistiken verzeichnen nur
deshalb mehr arme als reiche, weil solche statistiken der ideologie
der reichen und maechtigen unterliegen und weil sie nicht alle formen
der destruktivitaet auffuehren.
die zivilisation und ihre gehorsam fordernden normen sind
entscheidende faktoren bei der entstehung von selbsthass. dieser ist
die die ursache fuer unbehagen und unglueck. wenn der wahrheit
ausgewichen wird zum nutzen von ideologien, durch die sich die kultur
der macht am leben erhaelt, wird menschliches unglueck staendiges
merkmal unseres lebens sein, gleichgueltig, welche wirtschaftliche
oder politische richtung eine gesellschaft hat.
deutlichstes zeichen hierfuer ist das rachsuechtige und vorwurfsvolle
verhalten vieler menschen - egal, ob sie in einem kapitalistischen
oder kommunistischen land leben. denn rache und vorwurf - nicht
freiheit - sind zu ihrem lebensziel geworden, und so vertiefen sie
immer weiter ihre abhaengigkeit und verfallen immer mehr dem wahn,
macht sei das allheilmittel fuer alle probleme. so halten folgerichtig
viele menschen an der luege fest, sie haetten einen aufrechten gang
und seien selbstbestimmte menschen. und das ist auch der grund, warum
alle machtspiele in ihren absichten heuchlerisch sind und auf der
selbstluege beruhen. eine mutter kann ihr kind - so meint sie -
zurueckweisen, wenn es nach ihr ruft, sie hat es doch eben gewickelt
und will sich nicht schon wieder die haende schmutzig machen. statt
die verzweiflung ihres babys zu spueren, bemitleidet sie sich selbst.
seelische veraenderungen lassen sich nicht nur ueber das verstehen der
eigenen geschichte erreichen. in jeder psychotherapie oder
psychoanalyse reicht die entwirrung der verschlungenen chronologie der
kindlichen erlebnisse und einfluesse nicht aus, um echte veraenderung
zu bewirken. der patient aendert sich erst, wenn er selbst die
verantwortung dafuer uebernimmt, dass er sich einmal dafuer
entschieden hat, sich der macht zu unterwerfen. denn genau diese
unterwerfung ist es, die sein autonomes potential hat verkrueppeln
lassen und die seine seelische deformation bewirkte.
das ist auch meine kritik an alice millers sehweise, obwohl ich ihr
werk fuer wichtig und bedeutsam halte. sie argumentiert, als ob das
verstaendnis fuer die determinierenden einfluesse bereits die heilung
bewirke. tatsaechlich fuehrt das aber nur dazu, dass sich der patient
wolluestig im spiegel des therapeutischen verstaendnisses sonnt, ohne
sich aendern zu muessen. und der therapeut wird, indem er sich als
gute mutter fuehlt, nicht zu erkennen brauchen, dass er den patienten
von sich abhaengig gemacht hat. also wiederholt sich das ewige spiel
zwischen dem maechtigen und dem abhaengigen, zwischen der "guten"
mutter und ihrem dankbaren kind, das so nicht erwachsen zu werden
braucht. irrtuemlich wird eine solche internalisierung des therapeuten
- das gegenteil der gesuchten eigenen indentitaet - als
erwachsenwerden gewertet.
eine andere form der verkrueppelung ist es, sich nur zum schein zu
unterwerfen, um die eigene autonomie zu verteidigen. dies ist eine
paradoxe moeglichkeit, sich wenigstens die faehigkeit zur autonomie zu
bewahren.
zur wahren befreiung und damit zum wagnis der veraenderung gibt es nur
einen weg: sich dem schmerz ueber den selbstverrat stellen. es reicht,
wie gesagt, nicht aus, die eigene geschichte zu verstehen, aber ebenso
ungenuegend ist es, nur die soziale gewalt zu "verstehen", die auf die
entwicklung des individuums einfluss nimmt. damit allein kann man
nicht erklaeren, warum ein mensch zum moerder wird. man muss sich mit
der unterwerfung auseinandersetzen; sie hat einen menschen dazu
veranlasst, sich selbst zu hassen und dann alles leben um ihn herum,
weil es ihn daran erinnert, was er getan hat. das boese, das
destruktive, die unmenschlichkeit - all das hat seine wurzeln in dem
unvermoegen, die verantwortung zu uebernehmen fuer die lang
zurueckliegende entscheidung, das durch die geburt erworbene recht,
man selbst zu sein, preizugeben. natuerlich sind das boese und die
unmenschlichkeit nicht ohne unterstuetzende soziale strukturen und
einrichtungen moeglich, die unterwerfung und abhaengigkeit
verschleiern und gehorsam mit "verantwortlichem" handeln gleichsetzen.
doch solange wir hitler als ein phaenomen sehen, das mit dem
herkoemmlichen begriffspaar "normal" oder "geisteskrank" zu fassen
ist, solange sind wir nicht in der lage zu erkennen, was es bedeutet
hat und noch heute fuer uns alle bedeutet, dass ein mann wie er an die
macht kommen konnte.
im licht des bisher gesagten sollte nun plausibel sein, warum ich
einen erweiterten begriff von geistiger krankheit fuer notwendig
halte. nur eine solche erweiterung fuehrt zu einem umfassenden
verstaendnis des menschen und der seelischen verwirrungen, zu denen er
faehig ist. was psychatrie und psychologie als geisteskrankheit
vorfuehren, ist an die vorstellung gebunden, dass es sich dabei um
zunehmenden realitaetsverlust handelt. mehr oder weniger
realitaetsbezug - danach wird alles menschliche verhalten
klassifiziert. "realitaet" wird dabei ausschliessliche als aeussere
realitaet verstanden.
in der tat ist der realitaetsbezug - sein fehlen oder der grad der
ergebenheit an die aeussere realitaet - ein raster, in das man
menschen einordnen kann und das uns ermoeglicht, eine klassifizierung
vorzunehmen vom psychotischen verhalten ueber die neurose zur
normalitaet. doch ein solches schema verdeckt, dass es auch noch eine
andere art von krankheit gibt, die viel gefaehrlicher ist als die, die
vom verlust des realitaetsbezugs gekennzeichnet ist.
diese andere art von krankheit zu sehen erfordert einen wechsel der
blickrichtung und eine abkehr von den herkoemmlichen kategorien. dann
wird man sehen, dass sich hinter der orientierung an der "realitaet",
die gemeinhin das kriterium fuer gesundheit ist, eine tiefere und
weniger augenfaellige pathologie verbirgt: die des "normalen"
verhaltens, die pathologie der anpassung als folge der preisgabe des
selbst.
untersucht man diese pathologie genauer, so faellt als erstes auf,
dass es sich um eine krankheit handelt, deren intention nicht ist,
wahnsinn zu produzieren, sondern ihn "auszutricksen". was ich mit der
"intention" einer krankheit meine, wird zum beispiel deutlich an jenen
auffaelligen verhaltensweisen, mit denen jemand versucht, die
aufmerksamkeit auf sein leiden zu lenken. das sind hilferufe, oft so
verschleiert, dass sie sowohl den hilfesuchenden als auch den, dem der
hilferuf gilt, erst recht hilflos machen. im unterschied dazu
kennzeichnet die pathologie der normalitaet, die den wahnsinn
austrickst, die flucht vor dem leiden. und dies in einer gesteigerten
form: es ist nicht nur die flucht vor dem seelischen schmerz, sondern
auch die angst vor dem auseinanderfallen, von dem sich diese art
persoenlichkeitsstruktur stets bedroht fuehlt.
es ist nicht einfach, diesen vorgang anschaulich zu machen, da seine
erforschung durch blockierung unserer wahrnehmung behindert ist. so
sind wir oft unempfaenglich fuer bestimmte wahrnehmungen, weil wir
schmerz nicht ertragen koennen. es faellt uns beispielsweise schwer,
innere unruhe zu erkennen, weil wir gelernt haben, uns der aeusseren
realitaet zuzuwenden, um dieser unruhe auszuweichen. und genau deshalb
sind wir in der regel unfaehig, das zu sehen, was ich oben beschrieb.
daher ist auch mein vorhaben schwierig: wir alle sind gepraegt vom
diktat unserer zivilisation, die uns auferlegt, dem schmerz des
inneren chaos auszuweichen. auf diese weise wird "gesundsein" zu einem
sehr wirkungsvollen verwirrspiel, um die krankheit eines chaotischen
innenlebens zu verheimlichen. am ende wird man selbst gar nicht
wissen, dass man krank oder verzweifelt ist.
wie wir fortwaehrend unser wirkliches kranksein ueberspielen, davon
ist das moderne leben in einem ausmass charakterisiert, wie kaum zuvor
in der geschichte der menschheit. nicht zuletzt dadurch ist sie heute
in ihrem fortbestand bedroht. es ist die art "gesundheit", die henry
miller einmal so beschrieben hat: wir sind so "gesund", dass, wuerden
wir uns selbst auf der strasse begegnen, wir uns nicht erkennen
wuerden, weil uns ein selbst gegenuebersteht, das uns angst macht.
immer weiter fliehen wir vor unserer inneren wueste, unserer leere, da
wir ohne liebende beziehung zu uns und anderen sind, und fliehen damit
vor unserer eigenen vergangenheit.
wenn sich die spaltung noch nicht ausgewirkt hat, reagieren wir auf
das, was wir tun und was mit uns geschieht, mit gefuehlen von schmerz,
hilflosigkeit oder freude und neugier. als teil unserer
lebenserfahrung werden diese reaktionen laufend in unser innenleben
intergiert und wirken dort weiter. sie sind es, die uns die energien
liefern fuer unser kreatives sein, weil sie unsere empfaenglichkeit
fuer alles, was von aussen auf uns eindringt, praegen. in dem mass
aber, in dem der wert dieser gefuehle geleugnet wird, wird auch unsere
kreativitaet vermindert. vom eigenen innenleben abgetrennt, reagiert
man nur mehr mit vorgeschriebenen und vorgeformten ideen und
vorstellungen. von da ist es nicht mehr weit bis zur verwandlung in
roboter.
wenn schmerz, kummer, hilflosigkeit verleugnet werden, weil sie als
schwaeche gelten, etwa als unmaennlicher ausdruck weiblicher
gefuehlsduselei, als unangemessen im sinn maennlicher staerke (was
auch fuer frauen gilt, die nach maennlichen mustern staerke fuer sich
in anspruch nehmen), dann wird die innere welt ausgeschaltet und vom
getriebe des alltaeglichen lebens abgekapselt. und so versinkt die
innere welt immer mehr im unbewussten. aber sie bleibt der, wenn auch
unerkannte, motor unseres handelns, denkens und fuehlens.
es gibt also zwei grundsaetzlich verschiedene psychische verfassungen:
dort, wo die innere welt zugaenglich ist, wird der mensch faehig sein
zu schoepferischen reaktionen auf die reize, die von aussen auf ihn
eindringen. sie kann auch als unbewusste innenwelt da sein, solange
sie zurueckholbar ist. das innenleben ist so ein bewegliches sein, das
von grosser reaktionsfaehigkeit ist.
anders der gegentyp: wenn das fuehlende innere verschlossen ist, wird
es unberuehrt bleiben vom fluss der interaktionen des einzelnen mit
dem aeusseren leben. beziehungsweise genauer: eine wirkliche
interaktion wird es gar nicht erst geben. das ausmass der daraus
folgenden inneren isolation steht in direktem zusammenhang mit dem
selbsthass. er wird hervorgerufen durch die aktive beteiligung an der
unterwerfung unter das diktat einer "realitaet", die die leugnung
eutonomer gefuehle verlangt.
diese fortwirkende quelle des hasses verstaerkt nicht nur die innere
isolation, sondern auch das chaos, das von der fehlenden verbindung
zwischen der innenwelt und dem aeusseren leben herruehrt. all das
laesst die angst vor dem inneren und vor der bedrohung, dass es doch
einmal durchbricht, anwachsen. die spaltung verstaerkt die spaltung.
und so beschleunigt die angst vor dem zusammenbruch das eintauchen in
die aeussere realitaet, mittels derer man lernt, sich seinen platz in
einer welt zu sichern, die der macht und dem herrschen ergeben ist.
es ist festzuhalten: die einkapselung des inneren, also seine
isolation vom bestaetigenden kontakt mit der aussenwelt, fuehrt zum
verlust von organisation und integration. und das innere wird
gefuerchtet, weil seine beherrschenden elemente zerstoerungswut und
selbsthass werden.
ohne selbstorganisation bleibt das innere im zustand des aufruhrs, im
chaos. dies laesst sich am umgang mit den traeumen zeigen: der
grundmechanismus des traeumens dreht sich um die wiederherstellung von
verlorenen dingen emotionaler bedeutung, seien es wuensche oder
unbefriedigende beduerfnisse. aber diese sind in solchen menschen
verzerrt oder gar verneint. das erklaert wohl auch die klinischen
erfahrungen, dass es aptienten gibt, die nicht von traeumen berichten
koennen, da sie von sich selbst abgespalten sind, aber auf eine andere
art als schizophrene.
fehlende integration macht angst sowohl wegen der moeglichen
sprengkraft, aber mehr noch, weil der mensch von geburt an auf
integration angelegt ist. eric aronson und shelley rosenbloom haben
nachgewiesen, dass saeuglinge schon mit dreissig tagen schmerz und
unbehagen ausdruecken, wenn die bis dahin ganzheitlich-integrierte
wahrnehmung der mutter unterbrochen wird oder abreisst. voraussetzung
fuer ein integriertes menschliches sein ist ein innenleben, das sich
vielfaeltig angeregt und in integrativem austausch mit der aussenwelt
entwickeln kann. dies wiederum ist die vorbedingung dafuer, ein
"menschlicher" mensch zu werden. das ist auch der grund, warum die
voraussetzung fuer das boese eine weit komplexere entwicklung ist, die
auf der verleugnung und zerstoerung des selbst beruht.
die geschilderten spaltungsvorgaenge sind sehr verschieden von jenen,
die wir beim schizophrenen erleben. dieser versucht, in seiner
innenwelt zu bleiben, weil er die heuchelei der aeusseren, "realen"
welt nicht ertragen kann. er spaltet die aussenwelt ab, um mit der
eigenen gefuehlswelt in verbindung zu bleiben und mit den
moeglichkeiten der autonomie, die seine eigene innenwelt fuer ihn hat.
die verdraengung ihrer verzweiflung und inneren unausgegichenheit,
also die abspaltung vom eigenen innenleben, kennzeichnet jene
menschen, von denen angenommen wird, sie stuenden voll in der
realitaet. diese einschaetzung gruendet darauf, dass unsere
vorstellung von "realitaet" ganz auf diesen typus zugeschnitten ist,
und wird dadurch immer wieder scheinbar bestaetigt. darum wird gerade
solchen menschen die macht anvertraut, ueber unser schicksas zu
bestimmen, obwohl sie der verantwortung gar nicht gewachsen sind. dies
geschieht aber auch deshalb, weil diese menschen unsere eigenen
phantasien von realismus und staerke verkoerpern.
thema dieses buches ist daher die heimtuecke einer "gesundheit", die
das fehlen eines echten selbst verbirgt und die gleichzeitig als das
mittel zur flucht vor dem inneren chaos dient, das folge dieses
mangels ist. die abspaltung vom inneren macht die entwicklung eines
echten selbst unmoeglich.
der wahnsinn, der sich als normalitaet maskiert, unterscheidet sich
grundlegend von dem, was man gewoehnlich unter wahnsinn versteht.
deshalb muessen wir die vorstellung ueber den wahnsinn anders fassen.
schizophrenie - der "erkennbare" wahnsinn - muss in einer ganz anderen
perspektive gesehen werden: schizophrenie ist das ringen mit einem
viel folgenreicheren wahnsinn, naemlich mit dem wahnsinn, der als
normalitaet erscheint. damit wird auch die schwierigkeit meiner sicht
deutlic: wir alle fallen auf den aeusseren anschein von normalitaet
herein, da wir selbst unter dem druck unserer erziehung den kontakt
mit dem verloren haben, was sich hinter dieser fassade verbirgt.
das wiederspruechlichste der heutigen psychopathologie liegt darin,
dass vor allem solche menschen als krank klassifiziert werden, die an
sich nichts anderes suchen, als die verbindung zu ihrer eigenen
gefuehlswelt zu erhalten, und nicht jene, die versuchen, sich dieser
verbindung zu entledigen. die krankheit der ersteren ist nur zu oft
die reaktion auf den druck, der es ihnen unmoeglich machen soll, die
widersprueche und spaltungen in der welt unserer erfahrung zu
erkennen. die tiefere krankheit, die wir nicht sehen, weil unsere
aufmerksamkeit ganz vom "verrueckten" verhalten der schizophrenen in
anspruch genommen ist, liegt darin, dass diese menschen angesichts der
gesellschaftlichen widersprueche und luegen nicht die kraft haben, den
inneren zusammenhalt zu bewahren. deshalb auch koennen sie nicht offen
rebellieren oder widerstand leisten.
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